[Interview] Judith Vogt über Wasteland, Roll Inclusive, Diversität, uvm.

Hallo Judith
vielen Dank das du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Würdest du dich bitte kurz vorstellen.
Hi, ich bin Judith Vogt, ich schreibe – oft zusammen mit meinem Partner Christian – Science-Fiction- und Fantasy-Romane und Rollenspiele. Außerdem hoste ich den Genderswapped-Podcast mit meiner Freundin Lena.

© Droemer-Knaur

Derzeit kann man ins Wasteland reisen. Christian und du haben da etwas zwischen die Buchdeckel gebracht. Könntest du bitte mehr dazu erzählen
Gerne! „Wasteland“ ist ein Near-Future-Roman, der 45 Jahre in der Zukunft spielt. Insektensterben, Klimakatastrophe, Kriege und ein biologischer Kampfstoff haben Europa ziemlich entvölkert, und nun leben die Menschen in verschiedenen kleinen Gemeinschaften in den Ruinen der untergegangenen Zivilisation. Es geht um einen jungen Mann, der ein Baby im Wald findet, eine Frau, die mit einem Motorrad herumzieht – und eine Gang auf einem Schaufelradbagger.

Ich war Gast eurer Buchmesse Convent Lesung und konnte so das Endzeit-Feeling dieses Romans ein wenig einfangen. Welche Vorbilder gab es da
Vor allem die Gang auf dem Schaufelradbagger ist natürlich sehr Mad-Max-inspiriert. Der Bagger ist das maximale Gerät und findet geradezu kultische Verehrung. Ansonsten haben wir uns ein bisschen bei Fallout und Co. bedient, aber grundsätzlich versucht, eine Geschichte zu schreiben, die auch davon lebt, dass solche Geschichten normalerweise nicht in Deutschland spielen.

Welche Szene und/oder Charakter ist dir besonders in Erinnerung geblieben und warum?
Die Szene auf dem Schaufelradbagger ist schon ein besonders skurriles Highlight. Aber zusätzlich zu den hierarchischen Gangs gibt es noch die Anarcho-Kommune des Handgebunden-Markts. Die Szenen dort, besonders die ruhigen, die sich um Essen oder Gemeinschaft drehen, sind mir auch besonders in Erinnerung geblieben. Vielleicht, weil sie eine Form des Zusammenlebens darstellen, die uns in unserer Realität eigentlich nicht möglich ist. Eine Utopie in der Dystopie.

„Wasteland“ habt ihr gendergerecht geschrieben. Was verstehst du darunter und warum dieser Schritt?
Zum Roman gehört auch die eben genannte Utopie. Menschliche Gemeinschaften, bei denen die Unterschiedlichkeit Einzelner etwas sogar Überlebenswichtiges ist. Es gibt im Roman nonbinäre Figuren, neurodivergente Figuren, Figuren, die alt sind, queer sind. Das sollte sich darin widerspiegeln, dass in der Sprache des Romans alle nicht nur mitgemeint, sondern mitgenannt sind – und das umzusetzen, bedeutete, auf das generische Maskulinum zu verzichten. Wenn also eine Gruppe Menschen genannt wird, dann sind es nie „die Bewohner“ oder „die Motorradfahrer“, sondern es sind „die Markt-Leute“ oder „der Motorradtrupp“. Es gibt im Buch kein generisches Maskulinum mehr. Und das fällt nicht mal besonders auf.

Hat die Science Fiction, oder besser die Phantastik, dort Nachholbedarf? Was ist deiner Meinung nach zu tun? Wo sollte angefangen werden? Wie möchtest du da alte Strukturen brechen und ein entsprechendes Bewusstsein schaffen?
Nein, die Phantastik hat da nicht mehr oder weniger Nachholbedarf als die Gesellschaft insgesamt. Die meisten Journalist*innen haben Anweisungen, nicht zu gendern, keine Sternchen oder Gaps zu verwenden. Noch im März, höhnischerweise am Weltfrauentag, wurde einmal mehr vom Verein für Deutsche Sprache dafür plädiert nicht zu gendern – unterzeichnet von zahlreichen wirkmächtigen Stimmen, u.a. aus Presse und Literatur.

Sprache verändert sich, und um angesprochen zu werden, muss man ausgesprochen werden. Es ist für mich eine notwendige Konsequenz, Sprache neu zu denken. Ein Beispiel: Wenn in Deutschland gesetzlich eine dritte Geschlechtsoption möglich ist, müssen wir auch anfangen, sie sprachlich einzubinden: In den USA wurde gerade „they“ als mögliches nonbinäres Pronomen empfohlen – wann finden Neopronomen offiziell Eingang ins Deutsche?

Ich will dabei ganz sicher niemanden dazu zwingen, von nun an gendergerecht zu schreiben und zu sprechen. So etwas kann man nur bei sich selbst anfangen. Aber gerade fangen viele bei sich selbst an, und wir hoffen, dass wir die Widerstände langsam aber sicher aufweichen.

Ein kleiner Trend, den ich derzeit vernehme ist, dass Autoren vermehrt Protagonistinnen verwenden. Das ist zwar ein Schritt, kann aber doch nicht die Lösung sein?+
Ganz ehrlich? Eine „starke“ Protagonistin sagt nichts, gar nichts über das Buch aus und wie darin die restliche Figurenverteilung aussieht. Wir brauchen nicht mehr weibliche Protagonistinnen, wir brauchen mehr Vielfalt in allen Rollen.

Ich für meinen Teil bin Vielleser. Mir ist es egal, wer ein Werk geschrieben hat, ich lass mich eher vom Cover oder von einer Lesung/persönlichem Gespräch oder Klappentext fangen. Bin ich damit nun der Idealfall?
Haha, du wärst in einer idealen Welt wohl der ideale Leser. Aber wir leben in einer Welt, die Autor*innen, die nicht weiß, männlich und europäisch oder amerikanisch sind, spürbar marginalisiert. Frauen z.B. verdienen als Schriftstellerinnen erheblich weniger, wie letztes Jahr in einer Umfrage der Künstlersozialkasse herauskam – im Schnitt unter 10.000 € im Jahr! Das heißt, sie kriegen geringere Vorschüsse und somit auch weniger Werbebudget. Das heißt, die Auswahl, die sich dir in Buchhandlungen bietet, ist schon an sich gezinkt, und du wirst selbst bei einem Urteil aufgrund von Cover oder Klappentext eher nach dem Buch eines Manns greifen, weil die halt vor allen Dingen da sind. Wenn wir wirklich Ausgleich schaffen wollen, können wir leider nicht mehr „genderblind“ lesen, sondern müssen gezielt nach Marginalisierten greifen – und ich meine da, wie immer, nicht nur weiße Frauen, sondern Autor*innen, die queer, of color etc. sind. Das erfordert natürlich eine Politisierung des Lesens und den Willen, sich damit zu befassen, wen man liest. Aber es ist eben alles irgendwie politisch. 

Debatte und Änderungen müssen aus meiner Sicht auch sein, aber provokant nachgefragt, wo sollte es aber auch gut sein? Muss man z.B. 2019 über Werke aus den 1920er denselben Stab, wie über aktuelle Werke brechen? Ich meine muss man, bevor man urteilt, nicht auch alle Fakten haben?
Nein, ich muss nicht alle Fakten haben, denn ich habe niemals alle Fakten. Unser Gehirn arbeitet vor allen Dingen emotional, wir Menschen urteilen niemals vornehmlich nach Fakten, das ist eine Illusion, und zwar – so glaube ich – eine schädliche. Natürlich muss ich keine Stäbe über Bücher brechen. Das Ding ist nur: Ich persönlich habe keine Lust mehr auf rassistische Autoren aus den Zwanzigern – wozu auch? Für mich persönlich hat es keinen Mehrwert, es sei denn, ich müsste wissenschaftlich recherchieren. Um zum Vergnügen zu lesen, lese ich einfach nicht mehr gern alten Kram, über den ich mich ärgere. Aber natürlich kann man das weiterhin lesen. Toll ist natürlich, wenn man sich dann auch mit den problematischen Aspekten daran auseinandersetzt.

Lass es und doch bitte anschaulicher machen. Welches Werk findest du lesenswert, bedarf aber einer Überarbeitung oder zumindest einer Diskussion und warum?
Ich habe vor kurzem „The Female Man“ von Joanna Russ gelesen, einen Klassiker der feministischen Science-Fiction und noch bedrückend aktuell. Der Roman ist immer noch brillant, ich finde aber auch gut, dass die transfeindlichen Aspekte davon, zum Beispiel auf tor.com, diskutiert werden. Ich würde Bücher aber auch nicht überarbeiten lassen – das finde ich in Bezug beispielsweise auf einzelne Wörter in Kinderbüchern gut, damit Kinder nicht unreflektiert Rassismen übernehmen. Aber toten Autor*innen problematische Stellen umzuformulieren oder rauszukürzen würde die Auseinandersetzung damit obsolet machen.

Es gab in diesem Jahr u.a. den Aufschrei bzgl. Wikipedia und der zur Verfügungstellung von Information. In diesem Fall eine Listung deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen. Könntest du darauf einmal zurückblicken und den aktuellen Stand bzw. ein Resümee ziehen
Mein Resümee ist, dass es sich bei vielen Wikipedianern um einen Torwächterverein handelt, der es immer wieder effektiv schafft, andere nicht in ihren Club zu lassen. Wenn wir Wikipedia nutzen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass sie eine Perspektive auf Wissen ist, und zwar eine weiße, männliche, privilegierte. Und dass es andere Perspektiven gibt, aber keine, die so gut organisiert sind.

Planst du erneut Teil solcher Aktionen zu sein?
Klar, immer wieder. Ich glaube auch nicht, dass das Thema Wikipedia abgeschlossen ist.

© F&S

Unser Weg hat sich wegen „Roll Inclusive“ erneut getroffen und das Buch ist seit einiger Zeit erhältlich. Um was geht es?
Ja, du bist für eine Autorin eingesprungen, und wir durften ein Interview mit dir führen – vielen Dank dafür! In „Roll Inclusive“ werfen verschiedene Autor*innen Blicke aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema Repräsentation und Diversität im Rollenspiel. Ich finde, dabei sind durchweg tolle Texte herausgekommen, ich freu mich, dass ich das zusammen mit meinen Freunden Frank Reiss und AşkınHayat Doğan herausgeben durfte! „Roll Inclusive“ soll dabei keine abschließenden Antworten geben, sondern einen Moment in einem immer weitergehenden Diskurs abbilden.

Ich hatte über meinen Blog die Erfahrung gemacht, dass sobald ich über meine Sehbehinderung und die daraus resultierenden Erlebnisse berichte, die Leser*innen anteilsnehmende Neugier entwickeln. Man also schnell von Ursprung weg ist. Daher, was war für dich das Überraschenste an „Roll Inclusive“ und wo hast du dich ggf. dabei erwischt, dass dein Bild absolut falsch war?
Bei „Roll Inclusive“ gibt es ja kein „richtig“ oder „falsch“ – es sind ja keine Vorschriften. Alle Perspektiven hatten etwas Bereicherndes, was ich vorher so noch nicht kannte. Den Text zur Wahrnehmung von „historischer Korrektheit“ zum Beispiel finde ich für mich persönlich und meine Perspektive auf Recherche sehr gut. Und auch der dazu, was Rollenspiel mit unserem Gehirn macht, war ein echter Augenöffner – aber wie gesagt, alle Texte haben mir was gegeben.

Es gibt zu dem Buch doch hart, teils klischeehaft geführte Diskussionen. Verfolgst du diese und was denkst du darüber?
Ich verfolge sie nicht. Ich weiß, dass sie stattfinden, und manchmal stolpere ich darüber und lese dann doch wieder was, aber ich versuche, sie nicht aktiv zu verfolgen. Erstens driften viele, die es diskutieren, in eine Art Good-Bad-Binary ab, fühlen sich also irgendwie angegriffen von den Essays oder als „böse“ dargestellt, obwohl das in keinem der Essays auch nur ansatzweise der Fall ist. Das finde ich anstrengend. Und zweitens ist „Roll Inclusive“ ein gedrucktes Buch voller persönlicher Geschichten und Meinungen. Unsere Positionen stehen da drin, gedruckt, erst mal unveränderlich. Man kann sich damit auseinandersetzen, konstruktiv oder destruktiv. Aber letztlich muss ich das nicht im Internet verteidigen, die Texte stehen und sprechen für sich selbst.

Was hat sich seit der Veröffentlichung von „Roll Inclusive“ für dich verändert?
Die Veröffentlichung war ja erst im Oktober. Seitdem hat sich nicht wirklich etwas für mich verändert. Seit wir jedoch letztes Jahr zu dritt und später mit den Autor*innen zusammengefunden haben, um uns dem Thema zu widmen, hat sich mein Leben ganz klar und positiv Richtung Aktivismus verschoben, ich habe sehr viel dazugelernt und kann vieles, was ich früher nur so nebulös empfunden habe, klarer in Worte fassen.

Um Klischees zu brechen ist es doch gut, wenn den Leuten Konsumgüter an die Hand gegeben werden. Daher mal die Frage gestellt, was empfiehlst Du?

  • Roman/Hörbuch: „The Light Brigade“ von Kameron Hurley
  • Hörspiel: Ich höre leider keine Hörspiele! Das letzte, das ich gehört habe, war die Star Wars „Thrawn-Trilogie“!
  • Film/Serie: „Der Prinz der Drachen“
  • Videospiel: Ich spiele leider auch keine Videospiele! „Horizon Zero Dawn“, vielleicht?
  • Was ganz anderes: Ein Rollenspiel: „Dream Askew / Dream Apart“!

Wenn ich sagen würde, „es gibt immer wieder Leuchtturm-Projekte und die Verantwortlichen trauen sich nicht mehr, weil man fürchtet, Konsumenten zu verlieren“, was würdest du dazu sagen?
Dass die Angst „nichts mehr sagen zu dürfen“ oder „es niemandem mehr recht mache zu können“ ein moderner Mythos ist, den wir einfach nicht weiter befeuern sollten. Alle Leute dürfen nach wie vor alles sagen (sofern es nicht strafbar ist). Das Internet gibt allerdings Menschen die Möglichkeit, Kritik zu üben und gehört zu werden, die früher einfach nicht gehört wurden. Sie zu hören ist essentiell ist für eine Gesellschaft, die ihre begrenzenden Strukturen überwinden will.

Wo siehst du die Debatte in den nächsten 5-10 Jahren?
Wir hängen den Debatten in den USA ja immer 8-9 Jahre hinterher. Von daher: Ich sehe uns dann da, wo die sich gerade befinden: Die Hugo-Verleihung war super divers, sowohl, was die Bücher und ihre Figuren, als auch, was die nominierten und ausgezeichneten Autor*innen angeht. Vielleicht sind wir dann auch so weit, dass mehr als die üblichen Verdächtigen wahrgenommen werden – mein Wunsch wäre, dass Phantastik die Blase der hartgesottenen Fantasy- und SF-Fans verlässt und auch Leute außerhalb davon entdecken, was daran wertvoll ist. Auch das ist in den USA schon geschehen und lässt hier auf sich warten.

Vielen Dank für deine Zeit. Die letzten Worte gehören dir.
Dann danke ich dir für deine Fragen, die Zeit und den Platz und hoffe, meine Antworten haben dich nicht zu sehr geschockt! Bis bald!

 

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