[Rezension] Beyond the Wall – Und andere Abenteuer (Rollenspiel, Fantasy)

© System Matters Verlag

Als das Fantasy-Rollenspiel Beyond the Wall 2012 das erste Mal erschien (bzw. 2016 in der übersetzten Version beim damals erst frisch gegründeten System Matters Verlag), habe ich mich – zugegebenermaßen – ein klein wenig in das System verliebt. Wie schon anno 2009, als mich das Dungeonslayers-RPG aufgrund der unkomplizierten Regeln und der regen Community nach vielen Jahren der Abstinenz an den Spieltisch zurückholte, gelang es Beyond the Wall einige Jahre später erneut, den Spieltrieb von einst in mir zu entfachen. Anscheinend gab es da diesen ungestillten Hunger nach regelleichten, aber nicht minder kreativen W20-Spielsystemen alter Schule, die sowohl schnelle Szenarien, als auch ausgedehnte Kampagnen erlauben, wenn einem denn der Sinn danach steht. Denn aufgrund der unverkennbaren OSR-Gene bietet Beyond the Wall nämlich genau das – und darüber hinaus einen verflixt einfallsreichen Einstieg ins Abenteuererleben.

Im Juni 2020 gönnte der Verlag seinem (übersetzten) Erstlingswerk eine layouttechnische Generalüberholung, denn die charmante (aber arg knickanfällige) Papp-Mappe von 2016 musste einer gebundenen und somit deutlich stabileren Hardcover-Version weichen. Daher ist es endlich mal an der Zeit, einen zweiten Blick auf das Rollenspiel zu werfen.

INHALT
Okay, ziehen wir das Fazit zum neuen Layout gleich zu Beginn: Das Regelwerk mag jetzt schicker aussehen und sich wertiger anfühlen, aber der Umstand, dass u.a. die Charakterbücher nicht mehr getrennt beiliegen und nun bei Bedarf jeweils separat ausgedruckt werden müssen, ist schon irgendwie schade. Die Mappe und ihr Inhalt – so labil sie auch war – war überaus praktisch. Aber nun ja, die Welt dreht sich weiter und am Spiel selbst, das sich insbesondere an RPG-Neu- und Wiedereinsteiger richtet, hat sich gottlob nix geändert: Nach wie vor schlüpfen die Spielenden im Rahmen von Kurzszenarien in die Rollen von jugendlichen (und in der Regel nur menschlichen) Dorfbewohnern, die sich dran machen, ihre Siedlung gegen eine drohende Gefahr zu verteidigen, wobei sich die Autoren speziell an den Inhalten bestimmter Romanreihen von Ursula K. LeGuins und Lloyd Alexander orientieren. Die Besonderheit dabei: Das Dorf ist keine vorgegebene Örtlichkeit mit festgelegten NSC, sondern wird im Zuge der Charaktererschaffung mitkreiert. Weil sich Beyond the Wall als Rollenspiel ohne großartige Vorbereitungszeit präsentiert, sind im Regelwerk bereits insgesamt sechs Charakterkonzepte bzw. Charakterbücher enthalten, die auf den drei Grundklassen Kämpfer, Magier und Schurke basieren und mit jeweils leicht unterschiedlichen Grundwerten in den sechs Attributen Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Weisheit und Charisma beginnen. Der Hintergrundgeschichte in einem jeden Charakterbuch fällt dabei eine tragende Rolle zu, denn sie definiert in Form zahlreicher Zufallstabellen nicht nur die letztendliche Höhe der Startattribute und die Anzahl bzw. Art der Fertigkeiten, sondern auch die Verbindungen der Charaktere untereinander sowie zu bestimmten Dorfbewohnern. Apropos: Jede*r Spielende darf sich während des Erschaffungsprozesses zwei Örtlichkeiten sowie zwei wichtige Nichtspielercharaktere ausdenken und diese auf der Dorfkarte platzieren, wobei die Taverne als zentrales Element bereits existiert. Der Kreativität sind dabei im Grunde keine Grenzen gesetzt, es wird aber empfohlen, sich bei der Auswahl an den Ergebnissen der Tabellenwürfe zu orientieren.
Auf diesem Wege entstehen oft einzigartige Kombinationen, die den Spielenden den Einstieg erleichtern und vielfältige soziale Interaktionen ermöglichen.

Wie schon erwähnt, ist Beyond the Wall eher Szenario-basiert und auf Kurzweil ausgelegt. Das Regelwerk beinhaltet daher bereits vier Abenteuer, von denen drei ohne große Vorbereitungszeit gespielt werden können. Der Kniff dabei: Der Rahmen der Geschichten steht zwar fest, aber bestimmte Umstände bzw. Gegebenheiten und Motive, die der Story mehr Substanz verleihen, werden anhand von Zufallstabellen ermittelt. Findige Spielleiter behalten die von den Spielenden hinzugefügten Örtlichkeiten und Personen im Hinterkopf, um diese ins Abenteuer zu integrieren und mit den erwürfelten Situationen zu verknüpfen. So könnte sich beispielsweise eine dieser Personen als der Kopf des dunklen Kultes entpuppen, der seit kurzem für Unruhe sorgt und seinen Sitz in einer der benannten Örtlichkeiten hat. Das schafft eine gewisse Bindung zu sämtlichen Charakteren und mitunter Erinnerungen an einen unvergesslichen Spielabend.
Wer diese Art der Charaktererschaffung und des Zusammenspiels mit der Spielwelt aber partout nicht möchte, für den bietet das Grundregelwerk optionale Regeln für ein ganz klassisches Spielerlebnis nach traditionellem Schema (Höhe der Attribute auswürfeln, Fertigkeiten auswählen, etc.). Diese optionalen Regeln finden sich auch für die Verwendung von Elfen, Zwergen und anderen (typischen) High-Fantasy-Völkern, denn grundsätzlich ist Beyond the Wall als Low-Fantasy-Rollenspiel konzipiert.

Apropos Regeln: OSR-typisch orientiert sich auch Beyond the Wall an der ersten Edition des Urvaters Dungeons & Dragons, auf die wir jetzt aber nicht zum x-ten Mal eingehen wollen. Wohl aber auf die Regelerweiterungen, die Beyond the Wall mitbringt. Das betrifft zum ersten den Einsatz von Fertigkeiten zur Unterstützung der Attributswürfe, wie man es von moderneren d20-Systemen her kennt. Besitzt ein Charakter eine attributnahe Fertigkeit, so gibt sie stets einen +2-Bonus auf den Wurf. Im Ausnahmefall (wenn während der Charaktererschaffung dieselbe Fertigkeit noch einmal erwürfelt oder gewählt wird) kann dieser Bonus auf +4 ansteigen. Eine richtige Fertigkeitenliste gibt es jedoch nicht. Zwar sind in den Charakterbüchern bereits einige Fertigkeiten vorhanden, diese dienen aber eher der Inspiration. Letztlich obliegt es den Spielenden und der Spielleitung, passende Fertigkeiten zu entwickeln und deren Erhalt oder Steigerung über die Charaktererschaffung hinaus zu definieren.

Als zweiter Punkt ist das Magiesystem zu nennen. Ähnlich wie bei Dungeon Crawl Classics birgt der Einsatz magischer Kräfte nämlich stets die Gefahr, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Das betrifft bei Beyond the Wall sowohl die Anwendung der schwächsten aber gleichzeitig unkompliziertesten Magieform, den Cantrips – also jenen Zaubertricks, die beliebig oft gewirkt werden können – als auch die Anwendung der mächtigsten und aufwändigsten Magie, den Ritualen. Während für die Nutzung von Tricks lediglich ein Wurf auf Intelligenz oder Weisheit notwendig ist, um sie spontan wirken zu können (bei reinen Attributsproben muss der jeweilige Attributswert erreicht oder unterwürfelt werden), benötigt ein Ritual in der Regel zusätzlich eine gewisse Vorbereitungszeit sowie bestimmte Materialien. Misslingt ein Wurf, können die Spielenden zwischen zwei Effekten wählen: Entweder beraubt der missglückte Zauber dem Charakter aller magischen Kräfte, sodass dieser erst nach einer langen Rast wieder einsatzfähig ist, oder ein negativer Effekt stellt sich ein. Bei letzterem entscheidet die Spielleitung, was passiert. Die Zaubersprüche, sozusagen die „goldene Mitte“, stellen die zuverlässigste Art der Magie und die standardisierte Anwendungsform dar.

Als dritte Besonderheit sind die Schicksalspunkte zu nennen, von denen jede Charakterklasse zu Spielbeginn unterschiedlich viele besitzt. Durch den Einsatz dieser Punkte ist es möglich, misslungene Würfe zu wiederholen, andere Charaktere bei der Durchführung von Fertigkeitswürfen mit einem +2-Bonus zu unterstützen, auch wenn der eigene Charakter die entsprechende Fertigkeit gar nicht besitzt, oder dem Tod von der Schippe zu springen. Verbrauchte Schicksalspunkte regenerieren sich während des Spielverlaufs nicht und stehen erst beim nächsten Szenario wieder vollumfänglich zur Verfügung.

Ein umfangreiches Bestiarium sowie viele Tipps und Tricks, um als Spielleitung die Mitspielenden begeistern zu können, gehören ebenso zum Regelwerkumfang wie eine Grundkarte des Dorfes, das um die jeweiligen Ideen der Mitspielenden erweitert werden kann.

MEDIADATEN

…Autor: John Cocking, Peter S. Williams
…Verlag: Flatland Games / System Matters Verlag
… Format: Gebunden, Hardcover, A4
…Seiten: 172
…Erschienen: 2020 (Deutsche Neuaufl.)
…ISBN: 978-3963780011
…Preis: 24,95 EUR

MEINE MEINUNG
Egal, ob nun als ältere Mappen-Variante (praktisch) oder aktuelle Hardcover-Version (schick): Beyond the Wall gehört nach wie vor zu den besten Vertretern der riesigen OSR-Welle. Wer das Spiel mit den Charakterbüchern den Vorzug gibt – was die Autoren auch empfehlen –, bekommt einen grandiosen und unterhaltsamen Einstieg ins Abenteuererleben geboten. Die Qualität der beigefügten Startabenteuer schwankt zwar etwas, aber sie verdeutlichen das angestrebte Spielprinzip sehr gut. Allerdings wird hierbei die Spielleitung bereits sehr in die Pflicht genommen, was Neueinsteiger abschrecken könnte. Aber auf der anderen Seite macht eben genau das den Reiz dieses Systems aus. Und besser kann man die Mitspielenden nicht ins Spiel einbinden.

MEINE WERTUNG
5 von 5 Blicke hinter die Mauer

von: Christophorus

L I N K S

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