[Rezensopm] City of Mist: Spielerhandbuch (deutsche Ausgabe)

© Truant

Wer wollte nicht schon immer mal Hauptdarsteller in der eigenen Mystery-Detektivserie oder im eigenen Mystery-Comic sein? Der israelische Game Designer Amít Moshe will dies zumindest aus rollenspielerischer Sicht verwirklichen und brachte via erfolgreicher Kickstarter-Finanzierung „City of Mist“ an den Start. Das ungewöhnliche, stark narrative Rollenspiel ist in deutscher Übersetzung bei Mario Truant erschienen.

INHALT
Man stelle sich vor, man lebt in einer riesigen Stadt ähnlich New York City. In dem nie zur Ruhe kommenden Gewusel von über 8 Millionen Einwohnern geht man tagein, tagaus seiner Arbeit nach, seinen Hobbies, bringt die Kinder in die Schule oder in den Kindergarten, streitet und versöhnt man sich mit dem Partner oder schlendert einfach so durch die Straßen und lässt sich treiben. Ein ganz normales, unauffälliges Leben. Bis sich plötzlich die Kräfte des germanischen Donnergottes Thor in einem manifestieren und man in der Lage ist, vernichtende Blitze zu schleudern – und plötzlich feststellen muss, dass in dieser Stadt eigentlich überhaupt nichts so ist wie es zu sein scheint.

So oder so ähnlich ergeht es nämlich den Charakteren im Rollenspiel City of Mist. Sie sind sogenannte Pforten: Einst ganz gewöhnliche Menschen, die ganz gewöhnlichen Dingen nachgegangen sind, jetzt aber Kanäle für mystische oder gar legendäre Mächte unterschiedlichster Natur sind – Mythoi genannt –, die ihre „Wirte“ mit übernatürlichen Fähigkeiten ausstatten und sie in ein Leben zwingen, das sie so vielleicht nie wollten. Und dann gibt es da noch den namensgebenden Nebel, der die Stadt und ihre unbedarften Einwohner wie ein unsichtbarer Schleier umhüllt: Eine nicht zu (be)greifende Entität, die stets dafür sorgt, dass der Einsatz einer übernatürlichen Fähigkeit wie etwas einfach Erklärbares aussieht. Das Portal des Donnergottes hat einen Blitz verschleudert? War vermutlich nur das Blitzlicht eines Smartphones. Wachsen der Frau dort hinten gerade Flügel aus dem Rücken? Quatsch, das ist ein Paragliding-Schirm, mit dem sich die irre Angeberin bestimmt vom höchsten Hochhaus der Stadt stürzen will. Die World of Darkness winkt mal eben freundlich rüber.
Was dieser Nebel ist und in welcher Verbindung er zu der Stadt steht, weiß niemand so recht. Aber er scheint über einen eigenen Willen zu verfügen und nicht wenige Pforten haben es sich zur Aufgabe gemacht, mehr über ihn herauszufinden und hinter diesen Schleier zu sehen.

Wie in so ziemlich den meisten anderen Rollenspielen auch, arbeiten die Charaktere als Team zusammen, hier „Crew“ bezeichnet. Da dem Spiel das Powered by the Apocalypse (PbtA)-Regelsystem zugrunde liegt, das hauptsächlich auf narrative Inhalte setzt, stellt der Schaffungsprozess einer Crew sowie ihrer einzelnen Protagonisten ein wichtiges Kernelement dar, in den jeder Spieler einen Teil seiner Kreativität einfließen lässt. Woher kennen sich die Charaktere? Was ist ihr gemeinsamer Antrieb? Stehen besondere Ressourcen oder Informationsquellen zur Verfügung? Gibt es vielleicht Reibungspunkte untereinander bei bestimmten Themen oder Situationen? Existiert ein Verhaltenskodex? Und so weiter. Je detaillierter die Crew erschaffen wird, desto enger auch die Bindung zueinander – im Guten wie im Schlechten. Zudem können sich interessante spielerische Elemente ergeben, anhand derer sich neue Handlungsbögen auftun.

Die Charaktererschaffung kommt ebenfalls vollständig ohne Würfel aus und verlässt sich einzig auf die Kreativität der Spieler. So dürfen sie sich die Art des Mythos, der von ihren Charakteren Besitz ergriffen hat, selbst aussuchen. Ob eine Figur aus der griechischen Mythologie, aus einem Kinderbuch oder aus einer TV-Serie – ganz egal. Auch Gegenstände oder Orte sind möglich. Anschließend werden vier Themen bestimmt, die die übernatürlichen Fähigkeiten (Mythos-Themen) als auch die „menschliche Seite“ des Charakters (Logos-Themen) definieren und irgendwie mit dem Mythos im Einklang stehen. Diese Themen dürfen unterschiedlich variiert werden, wobei aber mindestens ein Mythos-Thema und mindestens ein Logos-Thema gewählt werden muss. Ein Charakter, der mit drei Mythos-Themen aber mit nur einem Logos-Thema erschaffen wurde, ist erschreckend mächtig – besitzt aber schon fast keine Bindung zu seinem menschlichen Dasein mehr und interessiert sich nur noch am Rande für diese Belange. Drei Logos-Themen und ein Mythos-Thema bedeutet wiederum, dass der Charakter vielleicht gerade erst „erwacht“ ist und beginnt, die Stadt des Nebels mit anderen Augen zu sehen, während er noch fest mit beiden Beinen im Leben steht.

Die Themen, von denen es auf jeder Seite sieben gibt, unterteilen sich noch einmal in Stärke- und Schwächemerkmale. Für jedes gewählte Thema dürfen sich drei Stärke- und ein Schwächemerkmal notiert werden, die in Frageform formuliert sind und die es für sich zu beantworten gilt. Und hier kommt die nächste Besonderheit: Zwar gibt das Spielerhandbuch schon etliche Merkmal-Vorschläge zu jedem Thema an die Hand, aber der Spieler darf und soll sich frei darin fühlen, eigene Merkmale zu erschaffen und zu definieren. Beispiel: Beim Thema „Bastion“ dreht sich alles um Verteidigung. Der Spieler entscheidet, dass die vorgeschlagenen Beispiele nicht passen und entschließt sich dazu, seinem Charakter eine Elefantenhaut zu verpassen – eine extradicke Haut, die Nah- und Fernkampfangriffe abschwächt. Die Richtlinie dabei ist, dass das Merkmal dabei stets zum Thema passen muss. Diese Merkmale sollen auch dazu dienen, dem Charakter mehr Tiefe zu verleihen und ihm eine Geschichte zu geben. Das Stärkemerkmal „Steht unter dem Schutz der Mafia“ könnte also bedeuten, dass der Charakter ein angesehenes Mitglied der Mafia ist oder war und in bestimmten Situationen auf deren Schutz zurückgreifen kann, z.B. in Form eines besonderen sicheren Unterschlupfs. Um was genau es sich bei diesem Merkmal aber letztlich handelt obliegt allein der Fantasie des Spielers und der Akzeptanz des Spielleiters

Zu Beginn beherrscht jeder Charakter seine Merkmale auf dem ersten Grad. Tritt während des Spielverlaufs eine Würfelsituation ein, zu der ein oder mehrere Merkmale passen, darf sich der Spieler jeweils eine „1“ auf das Würfelergebnis hinzuaddieren. Wie bei PbtA-Systemen üblich wird mit zwei W6 gewürfelt, wobei eine 6 oder niedriger einen Fehlschlag, eine 7-9 einen einfachen Erfolg mit kleineren Komplikationen und eine 10+ einen schweren bedeutet. Passt aber auch ein bei der Charaktererschaffung gewähltes Schwächemerkmal zu der Situation, wird wiederum eine „1“ vom Ergebnis abgezogen. Besitzen Gegner ebenso Fähigkeiten, die zur Situation passen und ihnen somit helfen würden, wird das Ergebnis um die Stufe der Fähigkeit verringert. Ebenso unterstützen oder verschlechtern Statuseffekte das Ergebnis. Brennt man ein Merkmal aus, garantiert das einen Erfolg, aber dann steht es bis zur Erholungsphase nicht mehr zur Verfügung.

Jede Handlung besteht im Groben aus acht Kernzügen bzw. aus einer davon, die je nach Höhe des Erfolgs zu unterschiedlichen Resultaten führt. Wer seine „Kräfte misst“, führt wettkampfartige Aktionen durch, bei denen es darum geht die Oberhand zu gewinnen. Klassisch sei hier der Nahkampf genannt. Wer hingegen „Das Blatt wendet“, nutzt seine Fähigkeiten, um sich oder seinen Verbündeten einen Vorteil zu verschaffen, z.B. um Merkmale zu verstärken, zu heilen oder um einen taktischen Vorteil zu bekommen.

Einige Spielzüge erzeugen oder gewähren bei erfolgreichen Würfen den Einsatz sogenannter „Saftpunkte“. Dabei handelt es sich um Bonuspunkte, die ausgegeben werden können, um innerhalb des Spielzugs weitere Vorteile zu erhalten. So kann man seinen Gegner auch einen Status in Höhe der Stufe verleihen, die die eingesetzte Fähigkeit besitzt. Beispiel: Ein Charakter duelliert sich mit einem Gegner und will diesen mit einem grellen Blitz – er hat hier die Mythos-Fähigkeit „Blitzlicht 1“ – blenden. Dafür wählt er den Spielzug „Kräfte messen“. Der Spieler würfelt mit 2W6 und erreicht ein kumuliertes Ergebnis von 9. Hierzu addiert er noch den Stärkewert seiner Kraft, hat also eine 10. Der Gegner hat keine nennenswerten Fähigkeiten die den Würfelwurf zu seinen Gunsten beeinflussen bzw. abschwächen könnten, also bleibt es bei einer 10. Nun kann der Spieler aus zwei Vorteilen wählen, die ihm das Würfelergebnis unter dem Spielzug „Kräfte messen“ beschert. Er wählt u.a. aus, dass er seinem Gegner einen Status in Höhe seiner Kraft – also 1 – verleihen darf. Der Status orientiert sich dabei an der angewendeten Kraft. Bei einem Blitzlicht wäre z.B. der Status „geblendet 1“ realistisch. Für alle Aktionen, bei denen der Gegner sehen muss, sind Würfe darauf für einen zeitlich begrenzten Rahmen um -1 erschwert.

Möchten Verbündete eingreifen, können sie dies unter Anwendung des passenden Spielzugs tun. So entfaltet sich ein abwechslungsreicher Schlagabtausch, der sich definitiv anders spielt als bei beispielsweise D&D. Allerdings muss man sich unter Umständen auf lange Diskussionen gefasst machen, weil jedes Merkmal – egal ob positiv oder negativ – situationsbedingt kreativ ausgelegt werden kann. Apropos Schwächemerkmale: Man sollte sich nicht scheuen, auch die Schwächen eines jeden gewählten Themas auszuspielen bzw. anzuwenden. Denn je öfter eine Schwäche zum Tragen kommt, desto höher steigt ihr Aufmerksamkeitswert. Ist die dazugehörige Leiste auf dem Themenblatt voll, wird der Wert zurückgesetzt und der Spieler darf ein zusätzliches Stärkemerkmal aus dem Thema wählen. Alternativ kann u.a. das bisherige Schwächemerkmal gegen ein anderes ausgetauscht werden.

Im Umkehrschluss kann es auch passieren, dass den Themen nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wird und sie sich dadurch zurückbilden. Der Wandel auf dem Pfad zwischen Mythos und Logos ist nämlich sehr schmal. Die richtige Balance zu finden, stellt das Fundament der Charakterentwicklung dar. Wer sich hauptsächlich seinem Mythos hingibt, läuft Gefahr, alsbald die Verbindung zu seinem gewöhnlichen Leben zu verlieren, was den Verlust eines oder gar mehrerer Logos-Themen bedeutet. Umgekehrt kann der Nebel dafür sorgen, dass der Lockruf der Gewohnheit, der Bequemlichkeit des Alltäglichen, einen zu großen Reiz ausübt und der Charakter seinen Mythos aus den Augen verliert

MEDIADATEN

…Autor: Amít Moshe
…Verlag: Mario Truant
… Format: Hardcover
…Seiten: 308
…Erschienen: 2019
…ISBN: 978-3-934282-56-8
…Preis: 49,95 EUR

MEINE MEINUNG
Das Spielerhandbuch von City of Mist ist vor allem eines: wunderschön! Obwohl sich Spieler und Spielleiter selbst eine Stadt aus dem Hut zaubern und diese nach eigenen Vorstellungen gestalten und ausschmücken können, zeigen die vollfarbigen Illustrationen und die immer mal wieder eingeschobenen, coolen Comicstrips, dass für die Macher die Stadt des Nebels ein dunkler Ort ist, in dem der Regen unablässig prasselt, die aufdringliche Neon-Werbung flackert und in jeder Ecke ein Verbrechen geschieht. Das Design und das Layout wirken trotz vieler farblicher Markierungen, die die Texte durchziehen, überaus aufgeräumt und übersichtlich. Es macht sogar Spaß, darin herumzublättern. Ein Extralob bekommt die deutsche Übersetzung: die ist schlichtweg toll geworden. Insbesondere die Passagen, die sich philosophisch des Grundthemas – dem Konflikt zwischen der menschlichen und der übermenschlichen Seite – annehmen, lesen sich sehr flüssig. Hier hätten auch viele Stolpersteine liegen können.

Der Lesefluss ist gerade zu Beginn sehr hoch, überzeugt vor allem durch die Übersichtlichkeit und die gute Sprache. Sobald der Regelpart beginnt, fällt er jedoch rapide ab. Plötzlich wirkt alles sehr verkopft und kompliziert verfasst, insbesondere, da mit vielen Beispielen gearbeitet wird – was per sé löblich ist –, in denen jedoch etliche Begrifflichkeiten verwendet werden, die erst deutlich weiter hinten im Regelwerk zum Tragen kommen bzw. erklärt werden. Das sorgt für mehr Fragezeichen als nötig und ist nicht intuitiv. Immer wieder werden auch Zusatzregeln eingestreut, die man verwenden kann, im Kontext aber eher verwirren. Zudem beschleicht einen stets das Gefühl, dass die Auslegung der Fähigkeiten für zu viel Diskussionen am Spieltisch sorgen und zu spezifisch ausfallen kann, sodass letztlich mehr darüber geredet als gespielt wird.

Aufgrund der Anforderungen, die City of Mist seinen Spielern und auch dem Spielleiter insbesondere in ihrer Erzählweise abverlangt, ist es kein Spiel, zu dem man mal eben spontan einladen kann. Alle Beteiligten sollten im Vorfeld wissen, worauf sie sich einlassen und was sie erwartet. Kann man sich damit anfreunden und ist man bereit, Zeit in das Verständnis (und die Auslegung) des Regelsystems zu investieren, kann City of Mist ein durchaus anspruchsvoller, aber großer Spaß werden.

MEINE WERTUNG
4 von 5 Stärkemerkmalen

von: Christophorus

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