[Rezension] KULT – Die verlorene Göttlichkeit (Rollenspiel, Horror)

© Truant

Als die erste Auflage im Jahr 1991 erschienen, sorgte das Horror-RPG Kult aufgrund der expliziten und kontroversen Inhalte für Gesprächsstoff. Nun ist die mittlerweile vierte Edition des selbstbenannten „Splatterpunk-Rollenspiels“ erschienen, mit komplett überarbeitetem Regelwerk und an die Neuzeit angepassten, modernisierten Inhalten. Und wie schon zu Beginn der 90er Jahre erscheint das Rollenspiel hierzulande auch wieder bbei TRUANT auch wenn diesmal eine (sehr erfolgreich abgeschlossene) Finanzierungskampagne der Veröffentlichung vorausging.

Ist Kult heute noch genauso verstörend wie vor 31 Jahren? Und kann es vor allem spielerisch überzeugen?

INHALT
Der optische Ersteindruck beim Durchblättern des Regelwerks weiß auf jeden Fall schon einmal zu gefallen: Die Farben Schwarz, Weiß und Rot dominieren jede Seite, in deren Mitte die hervorragenden, faszinierend düsteren Illustrationen von Künstlern wie Anton Semenov, Daniel Comerci oder Bastien Lecouffe-Deharme eingebettet sind – alles eingerahmt in goldschimmernden Vignetten. Das sieht nicht nur edel aus, sondern transportiert das beklemmende Ambiente des Spiels auch recht zielsicher.

Unterteilt ist das GRW in drei sogenannte Bücher: Das erste Buch widmet sich ganz der Charaktererschaffung und -entwicklung, während das zweite Buch sich an die Spielleitung richtet und viele Hinweise, Kniffe und Mechanismen enthält, um Kult-Abenteuer herausfordernd und unterhaltsam zu leiten und eigene Abenteuer oder gar Kampagnen entwerfen und umsetzen zu können. Das Kapitel legt nahe, zwischen Spielleitung und Spielenden einen „Horrorvertrag“ abzuschließen, in dem festgelegt wird, wie explizit bestimmte Elemente und Inhalte dargestellt werden können. Denn Grusel-, Schock- und Ekeleffekte gehören zu den Grundpfeilern von Kult – Die verlorene Göttlichkeit.
Buch drei wirft letztlich einen Blick hinter die Kulissen und geht auf über 150 Seiten detailliert auf die Welt hinter dem Schleier unserer Realität ein: Wer oder was sind die Archonten und die Todesengel? Was hat es mit der „verlorenen Göttlichkeit“ auf sich? Weshalb ist unser aller Leben nur eine grausame Illusion und was lauert dahinter?

Zumindest die zweite Frage lässt sich einigermaßen klar beantworten, bereitet sie bereits seit 30 Jahren den Nährboden für diverse Streifzüge an die Grenzen der Wahrnehmung: Vor Äonen waren die Menschen noch Wesen mit nahezu gottgleichen Kräften. Raum und Zeit spielten für sie keine Rolle, die Realität war ihnen Untertan. Doch dann kam der Demiurg, eine mysteriöse Entität von noch viel größerer Macht, und brachte den Menschen Verdammnis: Er nahm ihnen ihre Göttlichkeit und ihre Erinnerungen und wob gemeinsam mit den Archonten – verschiedenen Aspekten seines eigenen Wesens – eben jenes Gefängnis, das wir gelernt haben „Wirklichkeit“ zu nennen. Zehn von ihnen verfasste Prinzipien, darunter Habsucht, Versuchung oder Unterwerfung, füllen seit jenem Moment den Geist der Menschen und lassen sie sich ergehen in Intrigen, Konflikten und der Lust nach Macht. Die Illusion eines eigenen Willens erschuf schier unüberwindbare Mauern, die den Blick davor ablenken sollten, was sich wirklich dahinter verbirgt: Eine perfide Maschinerie, gebaut und geführt von unbegreiflichen Existenzen, die sich am Leid der Menschen laben und sie durch Zuflüsterungen und Versprechen einen immerwährenden, schmerzhaften Kreislauf aus Geburt und Tod zuführen. Das göttliche Feuer, das einst in den Menschen brannte, wurde in nichts als glimmende Asche verwandelt.

Für eine lange, lange Zeit funktionierte die Maschinerie reibungslos. Doch plötzlich und unerwartet verschwand der Demiurg. Und mit seinem Verschwinden, das nichts als Leere hinterließ, geriet das Konstrukt ins Stottern. Die ersten Menschen fühlten, dass unsichtbare Fesseln sich lockerten und die Archonten, in ihrem Wirken einst in perfekter Harmonie vereint, wandten sich gegeneinander. Und wäre das nicht schon Chaos genug, erhob sich aus den Flammen des Infernos die Entität Astaroth, dem Demiurg ebenbürtig, jedoch spiegelverkehrt in seinem Wesen, und mit ihm die Todesengel, die schattenhaften Gegenstücke der Archonten. Und während die Menschheit langsam erwacht und die bröckelnde Illusion zu durchschauen beginnt, greift Astaroth nach ihr, um ihren Geist zu pervertieren und erneut in Ketten zu legen…

Die Spielenden verkörpern natürlich eben jenen Teil der Menschen, der allmählig begreift, dass um ihn herum etwas nicht stimmt – und auch noch nie gestimmt zu haben scheint. Hierfür bietet das Regelwerk satte 25 sogenannte Archetypen an: Charakterklassen, die bereits weitgehend ausgearbeitet sind und nur noch im Detail angepasst werden müssen (z.B. bei der Wahl der individuellen Vor- und Nachteile, der Eigenschaftswerte und beim Beziehungsstatus zu den anderen Spielcharakteren). Sei es „die Gebrochene“, die bereits einen Blick hinter die Illusion geworfen hat und deren Geist nun verwirrt ist, „der Nachkomme“, der einer mystischen Blutlinie von Jenseits dieser Welt angehört, oder „die Sucherin“, die weiß, dass sich hinter vermeintlich bedeutungslosen Dingen Spuren zu einer unfassbaren Wahrheit verbergen können – für jeden Geschmack sollte etwas dabei sein. Wer mit den ganzen vorgefertigten Typen jedoch nichts anfangen kann, der kann sich kurzerhand auch gänzlich eigens kreierte Charaktere bzw. Archetypen zusammenzimmern.

Auch ist es möglich, bereits erwachte oder noch gänzlich schlafende Personen zu spielen. Während Erwachte sich dem, was um sie herum geschieht, bereits weitgehend bewusst sind und einen Teil ihrer Göttlichkeit wiedererlangt haben, sind die Schläfer der Illusion des Demiurgen noch vollends erlegen und leben jeden Tag ihr mehr oder weniger eintöniges Leben. Beide Charaktertypen haben – auch auf dem Charakterbogen in Form besonderer Eigenschaften – ihre Vor- und Nachteile und sollten daher mit Bedacht gewählt werden, um das Balancing und somit das Spielerlebnis nicht zu gefährden.

Das Regelsystem wurde deutlich entschlackt und basiert auf 2W10, die bei aktiven Spielerzügen immer gemeinsam gewürfelt werden und auf mindestens einer der 10 Charaktereigenschaften wie Charisma, Wahrnehmung oder Gewalt (Nah- und Fernkampf) basieren. Etwaige Modifikatoren bei diesen Eigenschaften erhöhen oder verringern das Ergebnis. Die Höhe des letztendlichen Wertes bestimmt, wie gut oder schlecht eine Probe gelungen ist. Ein Gesamtergebnis von 15 oder mehr gilt als voller Erfolg – das Vorhaben gelingt ohne Komplikationen. Ein Wert zwischen 10 und 14 bedeutet, dass die Probe zwar geschafft wurde, jedoch nicht ohne Konsequenzen. So könnte beispielsweise zwar ein Einbruch gelingen, jedoch wird dabei die Alarmanlage ausgelöst. Ein Ergebnis von 9 oder weniger bedeutet einen Fehlschlag und kann, je nach Willen der Spielleitung, auch ernsthafte Probleme mit sich bringen.

Den Spielenden stehen 11 unterschiedliche Spielzüge zur Verfügung, die jeweils eigene Handlungsaspekte abdecken: „Unter Druck handeln“ beschreibt zum Beispiel Situationen, bei denen Charaktere unter Zeitdruck etwas unternehmen oder weitreichende Entscheidungen fällen müssen (z.B. eine tickende Bombe entschärfen oder aus einem einstürzenden Haus entkommen), während unter „Schaden vermeiden“ alles zusammengefasst wird, was dazu dient, Schaden vom eigenen Spielcharakter abzuwenden, also ausweichen, parieren oder blocken. Konsequenzen für Erfolge oder Misserfolge sind jedem Spielzug beigefügt.

Wie in Horrorspielen quasi üblich, spielt die geistige Stabilität der Charaktere eine nicht ganz untergeordnete Rolle, denn mit der Zeit kann die mentale Festigkeit abnehmen, wenn die SC dauerhaft traumatischen Ereignissen ausgesetzt werden. Dies schlägt sich bis zu einem gewissen Grad geistiger Stabilität negativ auf bestimmte Eigenschaftswürfe aus. Gilt ein Charakter als vollständig gebrochen, treten zusätzliche Ereignisse ein, wie der Tausch zweier Eigenschaftswerte oder die Wahl eines neuen Archetyps. Wann ein Ereignis traumatisch ist, entscheidet im Zweifel die Spielleitung, hängt aber mit dem gewählten Archetypus zusammen. Ein Ronin – ein eiskalter Killer – hat üblicherweise deutlich weniger Skrupel damit jemanden zu töten, als vergleichsweise ein Künstler. Das Ereignis „getötet“ hat auf den Ronin also einen deutlich geringeren traumatischen Effekt. Aber es ist ja nichts in Stein gemeißelt, denn genauso ist es möglich, einen sensiblen Ronin zu spielen, der in seine Rolle gezwungen wurde und mit dem Töten anderer Menschen immense Schwierigkeiten hat.

Das Spiel geht davon aus, dass die Charaktere mit jedem Spielverlauf etwas mehr über die tatsächliche Wahrheit erfahren und beginnen, gewisse Dinge, die sie wahrnehmen, zu hinterfragen und anders zu interpretieren. Immer dann, wenn die SC etwas Neues von der Realität hinter dem Schleier erfahren oder damit beginnen, sich selbst und ihre Weggefährten besser zu verstehen, erhalten sie Erfahrungspunkte. Ab gesammelten 5 Punkten darf eine der auf dem – sehr schlicht gehaltenen – Charakterbogen angegebenen Verbesserungen durchgeführt werden. Nach jeweils 5 und 10 Verbesserungen (was also 25 bzw. 50 investierten Punkten entspricht) stehen weitere Zusatzoptionen, die das Machtpotenzial der Charaktere noch einmal ordentlich steigern.

MEDIADATEN

…Autor: Robin Liljenberg, Petter Nallo
…Verlag: HELMGAST AB / TRUANT SPIELE
… Format: Gebunden, Hardcover, DIN A4
…Seiten: 386
…Erschienen: 2022
…ISBN: 978-3-949089-05-3
…Preis: 59,95 EUR

MEINE MEINUNG
Mir gefällt die vierte Auflage des schwedischen Horror-RPG-Klassikers außerordentlich gut: Das Layout und generell die Optik wirkt im Gegensatz zum sehr verspielten Cyberpunk RED deutlich aufgeräumter und auch stilistisch viel ansprechender – auch wenn manche Stimmen meinen, der inhaltliche Aufbau des Regelwerks sei an vielen Stellen sehr willkürlich und durcheinandergewürfelt. Tatsächlich aber macht er Sinn, denn die Aufteilung in drei thematisch übergeordnete Kapitel (oder „Bücher“) wurde konsequent umgesetzt. Die Regeln passen sinngemäß auf einen Bierdeckel und sind somit schnell verinnerlicht, aber Kult – Die verlorene Göttlichkeit ist und bleibt auch viel mehr ein Erzählspiel, das von der Interaktion der Charaktere mit ihrer unwirklichen, verstörenden Umgebung lebt – und mit dem Grauen, das sich dahinter verbirgt. Jede Zeile atmet die tiefe Hingabe der Autoren zu dieser Welt, denn diese ist so detailverliebt und ausufernd beschrieben, dass einem beim Lesen Zweifel überkommen, überhaupt alles verstanden zu haben.

Das – und der unübersichtliche Index – ist auch der einzige Kritikpunkt, den ich dem Spiel zuschreiben muss: Um die Welten jenseits des Schleiers mit all ihren Kreaturen und deren Motivationen im Detail zu verstehen, ist viel Konzentration gefragt. Wer sich aber darauf einlässt, bekommt ein wunderbar komplexes Machwerk, das aufgrund seiner Ausrichtung aber nicht für jeden Spielertyp geeignet ist.

MEINE WERTUNG
4,5 von 5 Archonten

von: Christophorus

L I N K S

3 Kommentare zu „[Rezension] KULT – Die verlorene Göttlichkeit (Rollenspiel, Horror)“

  1. Leider war das Crowdfunding NICHT wirklich erfolgreich. Paypal weigert sich seit über einem Jahr, das Geld der Kunden herauszugeben. Das einbehaltene Geld nennen sie Reserve, mir fielen da eine Menge anderer Begriffe zu ein. Und so musste ich alles zwischenfinanzieren, um die Backer zu bedienen.

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  2. Kult ist ein wirklich tolles, dunkles und faszinierendes Rollenspiel. Ich stecke gerade mit meiner Gruppe mitten in der Kampagne „Die Schwarze Madonna“ und es macht sehr viel Spaß. Sowohl zu lesen, anzuschauen und zu spielen. Die Illustrationen sind erste Sahne, die Welt ist spannend und besonders. Das Regelwerk basiert auf „Powered by the apocalypse“ (pbta). Das ist sicher noch erwähnenswert.

    Und man muss auch sagen dass sich Mario wirklich sehr sehr spendabel während des Crowdfundings (4 Farb-Druck inkl. echtem Gold, ein ganzes Extra Buch, viele Zusatzszenarien, etc. ) gezeigt hat und auch danach sehr kundenfreundlich unterwegs war. Um so schlimmer finde ich es wenn das Geld zurückgehalten wird. Ich als Backer habe alles ohne Probleme erhalten und der Service war auch während des Crowdfundings einwandfrei und absolut vorbildlich wie ich fand. Ich drücke daher die Daumen, dass es hier endlich weitergeht und Mario sein Geld bekommt. Nicht den Mut verlieren und vielen Dank für das tolle Spiel in deutscher Übersetzung!

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