Autor: Boris Koch
Verlag: Heyne Verlag
Erschienen: November 2012
Format: Hardcover, 384 Seiten
ISBN: 978-3-453-26834-0
von: Sandra (Büchernische)
Jan trauert um seinen Freund Christoph, welcher bei einem Autounfall um Leben kam. Christoph starb mit 16 Jahren und alles was von ihm übrig bleibt, ist eine Urne voll Asche. An seinem 17. Geburtstag treffen sich vier seiner Freunde nachts auf dem Friedhof, an seinem Grab. Ein jeder trauert um einen Menschen, der ihm nahe stand, jeder auf seine Art. Keiner der Vier kann sich damit abfinden, dass es hier nun also zu Ende sein soll, nach der Beerdigung, auf einem dunklen Friedhof, im Schatten eines tiefwurzelnden Baumes. Weit weg von den Plänen, weit weg von der Welt, die Christoph sehen wollte. Sie fassen den Entschluss, seine Asche ans Meer zu bringen, aufgeteilt in vier Beuteln, denn Christophs letzter Wunsch war eine Seebestattung…
„Ich trauerte nicht. Trauer hatte in meiner Vorstellung etwas mit Würde zu tun, doch davon fühlte ich nichts in mir, nur Wut und Schmerz und einen blinden Hass auf alles und jeden, ich wollte irgendetwas kaputt machen. Oder irgendwen. Stumm ballte ich eine Faust, bis mir der Nächste die Hand entgegenstreckte, als würde das etwas bedeuten oder bewirken.“ – Seite 60
Boris Koch war mir vor seinem Jugendbuch mit dem aussagekräftigen Titel »Vier Beutel Asche« kein Begriff, doch nun, nachdem ich dieses Buch vorgestern zugeklappt habe und erst einmal ein wenig sacken ließ – auch im Hinblick auf viele emotionale Momente – weiß ich: Ich möchte mehr von Boris Koch lesen! Definitiv. Ich habe ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass er auch schon im Fantasy-Genre geschrieben hat und bin nun neugierig geworden, vor allem auf sein Buch »Der Königsschlüssel«. Zunächst aber zurück zu seinem aktuellen Buch:
Schlicht & wirkungsvoll
Das Cover ist schlicht, doch wirkungsvoll. Bewegungsunschärfe symbolisiert Geschwindigkeit, in mehrfacher Hinsicht wie ich denke.
Das Leben kann so schnell vorbei sein.
Die Erinnerung verwischt schneller als man es vielleicht möchte, ahnen kann.
Der Tod kam rasch, der Aufprall auf das Auto unausweichlich.
Vier Beutel Asche.
Auch typografisch hat der Heyne Verlag den richtigen Font gewählt, ganz klassisch im Typowriter-Design, es passt und harmoniert. Das Motiv gefällt mir einfach, denn es passt zum Buch, zum Thema und drängt sich nicht auf.
Emotional – authentisch – natürlich
Dieses Buch erinnert mich vom Stil her ein wenig an John Greens »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«. Das soll nun aber kein Vergleich zu diesem Autor werden, denn Boris Koch schaffte eine emotionale Atmosphäre, die mich mitriss und tief zwischen die Seiten zog. Es geht um Trauer und die Bewältigung der damit verbundenen Gefühle, das ist Herrn Koch wie ich empfinde, hervorragend gelungen. Das Buch ist keine schwere Lektüre, die man zum Schluss mit einem dicken Kloß im Hals zuklappt. Es hat seine tiefen gefühlvollen und auch sensiblen Momente, welche gerade Menschen, die einen geliebten Menschen, einen Freund verloren haben, nahe gehen werden. Doch ich habe auch geschmunzelt, ja recht häufig auch mal gelacht.
Der Ich-Erzähler – im Laufe der Handlung lernen wir ihn als Jan kennen – ist wütend und traurig zugleich. Seine Gefühlswelt und auch die der anderen drei Hauptfiguren zeichnet der Autor sehr authentisch, sehr intensiv undfarbig, jedoch ohne zu übertreiben oder gar vor Selbstmitleid zu zerfließen. Wir sprechen hier von vier Jugendlichen, die sich spontan auf eine Reise quer durch Deutschland Richtung französische Atlantikküste begeben, um – entgegen dem Willen der Eltern – ihrem Freund Christoph seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Die Spontanität hinter diesem Vorhaben wird jedoch keineswegs kindisch dargestellt, sondern die vier jungen Menschen machen sich ausreichend Gedanken, wie sie vorgehen, auch über die rechtlichen Konsequenzen. Immerhin handelt es sich nicht um ein Kavaliersdelikt aus der Sicht der Rechtsprechung betrachtet, die Totenruhe zu stören und eine Urne auszubuddeln. Doch die Vier sind sich ihres Handelns und der damit verbundenen Problematik zu jeder Zeit bewusst. Das ist eine Tatsache, die dem Buch einen gewissen heldenhaften Charakter verleiht. Entgegen allen Unmutes, aller Widrigkeiten wollen die Jugendlichen unbedingt den testamentarischen Wunsch Christophs erfüllen, auf hoher See bestattet zu werden und nicht auf einem Friedhof an einem Ort zu liegen, den er schon zu Lebzeiten liebend gerne verlassen wollte.
„Bestimmt ketten Grabsteine eine Seele fest und verhindern, dass sie frei mit den Winden reist, hat er mal gesagt, und: Seeleute haben es echt besser.“ – Seite 251
Packend bis zur letzten Seite
Der kontinuierliche Spannungsbogen in »Vier Beutel Asche« wird vor allem durch die Sorge, erwischt zu werden beziehungsweise die kostbare Fracht hinten im Gepäckträger des Motorrollers zu verlieren, durch die Seiten getragen und lässt dabei zu keinem Zeitpunkt nach. Gebannt verfolgte ich das Geschehen, hoffte mit den Protagonisten und war immer wieder froh zu lesen, dass sie trotz der Aufgabe nicht ihre Fröhlichkeit einbüßten. Im Gegenteil, sie planschen ausgelassen in einem Bach, setzen ihren Kumpel in Form eines der vier Beutel Asche zwischen sich, um ihn an ihrer Runde “teilhaben” zu lassen und lernen sich im Laufe ihrer spontanen Reise Richtung Frankreich immer besser kennen.
„Christophs Tod hatte uns aus der Bahn geworfen, und dass wir uns hier getroffen hatten, verband uns auf seltsame Art. Auch andere hatten ihn verloren, aber wir waren diejenigen, die nachts kamen, wenn der Friedhof geschlossen war und die Welt im Dunkel lag. Getrieben von Schuldgefühlen oder Sehnsucht oder dem Gefühl, dass alles falsch lief.“ – Seite 95
Geschickt ließ der Autor einfließen, in welcher Beziehung jede der vier Personen mit dem Toten stand. In Kursivdruck abgesetzt in Kapiteln wird mit Hilfe von Rückblenden erzählt, wie Selina, Lena, Jan und Maik Christoph kennengelernt haben, was sie mit ihm erlebt haben und warum er ihnen wichtig war. Getragen von locker leichter Erzählkunst verbunden miteloquenter, intelligent gewählter Ausdrucksweise entsteht hier ein sehr authentisches Bild direkt aus dem Leben, als ob man ebenjene Geschichte als Leser selbst mit dem Nachbarsjungen von nebenan erlebt haben könnte. Boris Koch findet genau die richtigen Worte, den Leser mit der Geschichte zu packen, nicht nur auf emotionaler Ebene. Ich bin wirklich sehr angetan von diesem Buch, gerade auch weil der Autor eben nicht betont cool schreibt, er schreibt lässig, legt den Jugendlichen natürlich auch entsprechende Worte in den Mund, aber er übertreibt es eben nicht. Ich wage hier mal zu behaupten, dass dies oft einen deutschen Autor von einem amerikanischen Jugendbuchautor unterscheidet. Mir fiel in letzter Zeit häufiger auf, dass mir gerade der amerikanische Highschool-Slang oft auf die Nerven ging. Es war daher eine willkommene Abwechslung, dieses Buch zu lesen. Das wurde mir allein schon durch die Textstelle klar, in welcher beschrieben wurde, wie sehr sich ein fast 17jähriger mit dem Thema Tod, Nachlass und Testament auseinander gesetzt hat. Das kommt wohl auch nicht oft vor, dass ein junger Mensch jedes Jahr aufs neue darüber Gedanken macht, wem er was nach seinem Ableben hinterlassen möchte, welche Menschen ihm wirklich wichtig sind und wen er zu seinen wahren Freunden zählen möchte. Das sind tiefsinnige Gedankengänge, die mich einfach beeindrucken und überzeugen konnten.
„Wie kann das Ziel des Lebens ewige Leblosigkeit sein?“ – Seite 121
Ein absolutes Must-Read!
Auch in »Vier Beutel Asche« befinden sich die Protagonistin mitten in der Pubertät, doch gerade dieses Buch beweist, dass sie zwar zu recht unkonventionellen, gar verbotenen Methoden greifen, aber sie denken sich etwas dabei, sie handeln konsequent, logisch und sind sich dessen auch bewusst. Da der jugendliche Jargon nicht übertrieben dargestellt wurde, wird das das Buch auch erwachsene Leser ansprechen. Während sich die Zielgruppe klar mit den Personen identifizieren kann, erfreut sich der erwachsene Leser an der gut durchdachten, gefühlvollen und auchabenteuerlichen Fahrt zweier – mit vier Plastikbeuteln Asche im Gepäck – fahrender Motorroller über deutsche Landstraßen Richtung französische Küste. Dabei stehen aber nicht so sehr die Landschaft im Vordergrund als vielmehr die Akteure selbst.
Mitten auf dem Parkplatz bildeten wir einen Kreis, der mathematisch gesehen natürlich auch ein Viereck sein konnte. Wir waren vier Punkte, es kam darauf an, wie man uns verband. Wie, das wusste ich nicht, aber wir waren verbunden – Seite 143
Die Botschaft des Buches, den letzten Wunsch eines Menschen zu akzeptieren, hat der Autor in seinem Buch auf ganz wundervolle und besondere Weise umgesetzt. Gerade die ersten Seiten des Buches sind hochemotional, voller Wut auf den Verursacher des Unfalls und dennoch fand ich schnell einen Zugang zum Icherzähler. Das liegt mitunter daran, dass ich seine Gefühle bestens nachvollziehen und nachempfinden kann. Manch einem wird der Einstieg evtl. ein wenig schwer fallen, da man als Leser gleich recht hart mitten ins Geschehen geworfen wird, aber spätestens nach dem Kennenlernen der anderen Hauptpersonen fühlt man sich mehr und mehr mit diesem Buch verbunden. Es geht um Schuld, auch um Rachegedanken, umTrauer – Gefühle, die Boris Koch treffend zur formulieren weiß und welche dem Buch viel Leben einhauchen. Ich kann gar nicht so viele Zitate nennen, wie ich gerne möchte denn dieses Buch ist voll von Sätzen, die in meine Zitatesammlung wandern werden, denn sie geben sehr treffend das wieder, was ich selbst zum Thema Tod & Trauerbewältigung denke.
Mein Fazit:
Wie sehr ein tragisches Erlebnis Menschen zusammenführen, ja zusammenschweißen kann, wie sehr Gemeinsamkeiten zarte Bande knüpfen können, beweist dieses Buch! Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, »Vier Beutel Asche« zu lesen, es ist ein Buch für alle Menschen, die gefühlvoll lesen, aber auch schmunzeln wollen. Authentizität, Sensibilität mit dem Thema Trauerbewältigung & Emotionalität sind die Stärken dieses einzigartigen Jugendbuches! Lesen! Jetzt!
Meine Wertung:
5 von 5 Beutel