[Rezension] Cyberpunk RED: Grundregelwerk (Rollenspiel)

© Truant Spiele

Was war das damals, anno 2012, für eine Ankündigung: Das Warschauer Entwicklerstudio CD PROJEKT RED, das kurz zuvor erst sehr erfolgreich den zweiten Teil ihrer The Witcher-Videospieltrilogie, die auf der gleichnamigen Romanreihe des polnischen Autors Andrzej Sapkowski basiert, veröffentlicht hatte, konnte sich auch die Lizenz des Pen-and-Paper-Rollenspielklassikers Cyberpunk 2013 bzw. Cyberpunk 2020 sichern. Als nur wenige Monate darauf ein erster Teaser des Cyberpunk 2077 getauften Spiels im Internet veröffentlicht wurde, der auf das Kommende einstimmen sollte, schien die Vorfreude grenzenlos. Erst recht, als 2013 (!) bekannt gegeben wurde, dass niemand Geringeres als Mike Pondsmith, der Autor der Rollenspielvorlage, hauptverantwortlich für die Story des Spiels sein würde.

Die Zusammenarbeit zwischen R. TELSORIAN GAMES und CD PROJEKT RED trug allerdings noch weitere Früchte: Man nahm die Entwicklung von Cyberpunk 2077 zum Anlass, zusätzlich auch eine neue, an das Spiel angepasste Edition des Cyberpunk-Tischrollenspiels zu kreieren, die, wie auch das Videospiel, 2020 (!!) endlich das Licht der Welt erblickte. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: Das sehnsüchtig erwartete Cyberpunk 2077 enttäuschte viele Spieler*innen weltweit und das Image von CD PROJEKT RED als Liebling der Community und Quasi-Heilsbringer der Videospielbranche erhielt reichlich Kratzer und Dellen. Das hielt TRUANT SPIELE jedoch nicht davon ab, die Cyberpunk RED benannte Edition rund ein Jahr später ins Deutsche zu übersetzen. Wie schlägt sich das Rollenspiel gegenüber seinem Videospiel-Pendant?

INHALT
Es ist das Jahr 2045. Mehr als 20 Jahre sind seit dem Ende des vierten Konzernkriegs, der gleichzeitig auch das Ende von Cyberpunk 2020 auf Plotebene markierte, vergangen – und die Welt liegt aufgrund der katastrophalen globalen Auswirkungen noch immer eher mehr denn weniger am Boden. Insbesondere Night City, Dreh- und Angelpunkt in der Cyberpunk-Welt, hat unter den Nachwirkungen zu leiden: Neben „allgemeinen Problemen“ wie einer zusammengebrochenen Wirtschaft oder dem kollabierten NET, kämpft die künstlich erschaffene Stadt mit den Folgen einer Atomexplosion, die 2023 das Konzernviertel sowie Teile des Zentrums fast vollständig zerstört und in eine radioaktiv verseuchte Stahl- und Betonwüste verwandelt hat. Rund 750.000 Menschen fanden den Tod, mehr als 2 Millionen flohen in die jetzt völlig überfüllten Randbezirke und militante Gangs kämpfen mehr denn je um die Vorherrschaft in der Stadt. Kurzum: Es ist wirklich so ziemlich alles den Bach runtergegangen. Aber Night City wäre nicht Night City, wenn es sich nicht aus den Trümmern erheben und aus dem entstandenen Elend Kapital schlagen könnte…

Cyberpunk RED schlägt inhaltlich also eine Brücke zwischen dem Ende von Cyberpunk 2020 und den Ereignissen in Cyberpunk 2077, das noch einmal 32 Jahre in der Zukunft spielt und mitunter die Geschichte des Revoluzzers (bzw. Terroristen) Johnny Silverhand weitererzählt.

Beide Publikationen miteinander zu verknüpfen und die jeweiligen Geschehnisse in Abhängigkeiten zu bringen, ist aus marketingtechnischer Sicht natürlich ein genialer Schachzug. Und dafür nimmt sich das Regelwerk auch ausreichend Zeit, denn die globalen Veränderungen, die zwischen 2020 und 2045 eingetreten sind (und die sich auch auf Cyberpunk 2077 auswirken), werden im Rahmen der insgesamt 458 Seiten immer wieder in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und erläutert. Sei es bei der generellen geschichtlichen Entwicklung (z.B. die „Rote Ära“, der das Spiel seinen Namen verdankt und in der im Zuge des Konzernkrieges Partikel aus Schutt, Schmutz und radioaktivem Staub für Jahre den Himmel in einen rötlichen Schleier hüllten), der Neuausrichtung des WEB oder bei der modernen Kriegsführung – sämtliche Aspekte zwischen damals und dem fiktiven „Heute“ des Jahres 2045 werden beleuchtet und mitunter sehr ausführlich erklärt. Das liest sich sogar äußerst spannend, wurde bei den Texten doch sehr viel Wert auf eine integrale Ausdrucksweise und einen unterhaltsamen Stil gelegt. Besonders toll: Querverweise auf Seiten, auf denen bestimmte Inhalte deutlich detaillierter beschrieben stehen, ersparen ein umständliches herumblättern und -suchen. Allerdings wurden bei der deutschen Übersetzung Wörter hin und wieder einfach verschluckt. Manchmal ergeben so ganze Sätze gar keinen Sinn. Passiert nicht oft, ist dann aber auffällig – was einen Abzug in der B-Note bedeutet.

Wie schon das The Witcher-Rollenspiel, das ebenfalls in Kooperation mit CD PROJEKT RED bei R. TELSORIAN GAMES erschienen ist und von TRUANT SPIELE ins Deutsche übersetzt wurde, setzt auch Cyberpunk RED auf eine stark überarbeitete Version des Interlock-Regelsystems, das in seiner Urform bereits aus Cyberpunk 2020 bekannt ist. Das Grundprinzip ist dabei denkbar einfach: Bei regulären Probenwürfen werden ein bestimmter Attributswert (von denen es 10 gibt) und ein davon abgeleiteter Fertigkeitswert (von denen es in Summe satte 66 gibt, die wiederum in 11 Gruppen zusammengefasst sind) mit dem Ergebnis eines W10-Wurfs addiert und gegen einen vom Spielleiter festgelegten Schwierigkeitswert, der irgendwo zwischen 9 und 29 liegen kann, gegengerechnet. Der höhere Wert gewinnt. In Konfliktsituationen werden hingegen direkte Vergleichswürfe durchgeführt, wobei auch hier das höhere Ergebnis siegt. Eine natürliche Zehn auf dem W10 bedeutet einen kritischen Erfolg. Der W10-Wurf darf wiederholt und der Wert zusätzlich zum Ergebnis hinzugerechnet werden. Im Umkehrschluss stellt eine natürliche Eins einen kritischen Patzer dar, bei dem der erneute W10-Wurf vom Ergebnis abgezogen wird. „Explodierende“ Würfel gibt es dabei nicht, der Wurf darf in die eine wie in die andere Richtung nur einmal wiederholt werden.

So leicht verständlich diese Grundmechanismen auch sind – ein enormes Bündel an Zusatzregeln verwandeln auch das überarbeitete Interlock-System in kein Leichtgewicht. So können Panzerungen beschädigt werden und an Schutzwirkung verlieren, Treffer am Kopf richten mehr Schaden an, jedes Material, hinter dem man in Deckung geht, besitzt eigene Trefferpunkte und selbst Kampfsportarten wie Teakwondo und Aikido besitzen jeweils ganz unterschiedliche Angriffs- und Verteidigungstechniken.

Deutlich entschlackt bzw. beschleunigt wurde der Modus „Automatisches Feuer“, sofern die entsprechende Waffe (in der Regel ein Sturm- oder Maschinengewehr) ihn unterstützt und die Charaktere die Fertigkeit „Automatisches Feuer“ besitzen. Statt, wie damals, jedes Geschoss einzeln auszurechnen, wird nun ein Geschossmuster mit 10 Geschossen bzw. Kugeln verwendet. Bei einem erfolgreichen Wurf auf den festgelegten Schwierigkeitsgrad wird der Wert, um den der Schwierigkeitsgrad übertroffen wird, als Schadensmultiplikator herangezogen und mit dem Ergebnis des Schadenswurfes, der dabei mit 2W6 festgelegt ist, multipliziert. Beträgt der Schwierigkeitsgrad also beispielsweise 20 und es wird beim Angriffswurf eine 24 gewürfelt, so beträgt der Multiplikator 4. Der Schadenswurf ergibt eine 9. 9 x 4 = 36 Schadenspunkte. Aua.

Aber als was darf man sich denn überhaupt auf die rauen Straßen von Night City wagen? Cyberpunk RED lässt einem die Qual der Wahl aus zehn Klassen bzw. Rollen, die schon aus den Vorgängereditionen bekannt sind: Solos (klassische Söldnerinnen bzw. Kämpferinnen), Netrunner (Hackerinnen), Konzerner (schmierige Geschäftsleute mit einem Sinn für Teamwork), MediTechs (illiegale Straßenärzte und Cyberware-Sanitäterinnen), Rockster (das charismatische Entertaining-Talent), Medias (Journalisten oder Influencerinnen, die im NET zuhause sind), Gesetzeshüter (Polizisten auf den harten Straßen der Stadt), Schieber (Händlerinnen aller Art mit weitreichenden Kontakten), Techs (Bastlerinnen und Erfinderinnen) und Nomaden (Logistikexperten und Straßen-Rowdys mit einem Faible für Fahrzeuge).

Jede Klasse besitzt eine spezielle Rollenfähigkeit, die sie hervorhebt: Während der Rockster mit seiner charismatischen Wirkung besonders gut Leute um den Finger wickeln und beeinflussen kann und der Netrunner dank seiner „Interface“-Fähigkeit das NET beherrscht, können Medias allein mit der Macht ihrer Glaubwürdigkeit ganze Konzerne zum Einsturz bringen, wenn sie beispielsweise aufgeschnappte Gerüchte in knallhart recherchierte, investigative Artikel verwandeln – oder gezielt Kampagnen starten. All diese speziellen Fähigkeiten können im Laufe des Charakterlebens gezielt ausgebaut und von ihrem Wirkungsgrad her erweitert werden.

Bei der Charaktererschaffung wird bei Cyberpunk RED vor allem eines: Viel gewürfelt. Ob persönlicher Kleidungsstil, das familiäre Umfeld oder tragische wie verflossene Liebschaften – das Regelwerk bietet zahlreiche Möglichkeiten (und Zufallstabellen), dem Charakter durch die Ausgestaltung des bisherigen Lebensweges ordentlich Tiefe zu verleihen. Darüber hinaus besitzt jede Rolle noch eigene Tabellen, die beispielsweise den Arbeitsplatz beschreiben, die ethische Einstellung definieren oder den bisherigen Kundenstamm bestimmen.
Grundsätzlich stehen drei verschiedene Charaktererschaffungskonzepte zur Auswahl, denen allen zwar die individualisierte Ausgestaltung des Lebensweges gemein ist, die sich jedoch in puncto Attributs- und Fertigkeitspunktevergabe, Startausrüstung und bereits verbaute Cyberware deutlich unterscheiden. Während bei der „Straßenkinder“ genannten Variante je Rolle vorgefertigte Schablonen zum Einsatz kommen, die einen schnellen und möglichst unkomplizierten Start ins Spiel ermöglichen sollen, ist das „Komplettpaket“ maximal flexibel und kann den Charakter anhand eines Punktepools und einer festen Menge Startgelds ganz nach den eigenen Vorstellungen formen. Die „Edgerunner“-Variante stellt den goldenen Mittelweg aus Flexibilität und vordefinierten Werten dar.

So oder so sollte dabei immer der Menschlichkeitswert im Auge behalten werden, denn wer den Charakter zu sehr mit Cyberware vollstopft, kann ihn ratzfatz in einen amoklaufenden Metallboliden verwandeln, weil er aufgrund einer zu geringen Menschlichkeit der Cyberpsychose zum Opfer gefallen ist.
Leider bietet das Regelwerk kein ausgearbeitetes Einstiegsabenteuer zum sofort loslegen an, sondern beinhaltet nur eine Handvoll Kurzszenarien sowie etliche mögliche Plotaufhänger, die die Grundlage eines eigenen Abenteuers bilden können. Spieler wie Spielleiter, die mit Cyberpunk RED ihren Einstieg feiern, müssen sich also darüber im Klaren sein, dass sie nicht an die Hand genommen werden. Dazu ist dann wohl explizit das Starterset gedacht, das aber separat erworben werden muss und auch nicht alle Regeln beinhaltet.

Die Aufmachung bzw. das vollfarbige Layout ist grundsätzlich okay und folgt aufgrund der Dominanz der Farben Rot, Weiß und Schwarz auch einer gewissen Stringenz, wirkt durch den geradezu inflationären Gebrauch unterschiedlichster Formatierungen, Schriftartengrößen, Informationskästen und sonstiger optischer Hervorhebungen aber auch sehr verspielt und unruhig. Weniger wäre hier mehr gewesen, zumal die immer wieder eingebetteten Illustrationen und Verweise auf andere Bereiche des Regelwerkes, wenn dort etwas detaillierter zum Thema beschrieben steht, wirklich toll sind.

MEDIADATEN
…Autor: Mike Pondsmith, Cody Pondsmith
…Verlag: TRUANT SPIELE
… Format: Gebunden, Hardcover, A4
…Seiten: 458
…Erschienen: 2021
…ISBN: 978-3-949089-07-7
…Preis: 59,95 EUR

MEINE MEINUNG
Cyberpunk RED ist tatsächlich ein gelungener Neubeginn. Das liegt nicht nur an den im Gegensatz zu den Vorgängerpublikationen deutlich verschlankten Kernregeln (wobei es noch immer genug Zusatzregeln gibt, die einen nicht zu unterschätzenden, komplexen Brocken daraus machen), sondern vor allem an der Lore, die Mike Pondsmith und seine Autoren nach den Geschehnissen in Cyberpunk 2020 so behutsam erweitert und die heutige Zeit angepasst haben, dass ein Neustart wie eine logische Konsequenz erscheint. Die Zeit ist reif für neue Gesichter mit neuen Geschichten in einer Welt, die sich im Wiederaufbau befindet. Inhaltlich ist Pondsmith & Co. eine wirklich schöne Bereicherung der eigenen Franchise gelungen, dessen verwendete Sprache mich direkt angesprochen hat. Wäre da nicht das viel zu verspielte Layout und die nicht immer gelungene Übersetzung, wobei sich diese Kritik auf die recht häufig anzutreffenden Tippfehler und verschluckten Wörter bezieht und nicht auf die Qualität der sprachlichen Übersetzung, denn diesbezüglich hat Jan Enseling ganze Arbeit geleistet.

MEINE WERTUNG
3,75 von 5 Netruns

von: Christophorus

L I N K S

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: