In naher Zukunft wird die deutschsprachige Version von „Spire“ durch Systam Matters auf das Spielevolk losgelassen. Somit war es an der Zeit Frank und Daniel einige Fragen zu stellen. Viel Spaß beim lesen.

Hallo Daniel, hallo Frank,
vielen Dank für Eure Zeit. Stellt Euch bitte kurz vor?
Frank: Vielen Dank für deine Interviewanfrage! Ich bin Frank Reiss und bin der verantwortliche Redakteur für Spire. In dieser Rolle habe ich das Projekt von Anfang an betreut. Spire ist ja eine Übersetzung eines Rollenspiels, das auf Englisch erschienen ist, so dass es hier vor allem um die Übersetzung, aber auch ums Lektorat, Layout und die Begleitung der Vorbestellungsaktion ging. Vor meiner Arbeit an Spire habe ich den Essay-Band Roll Inclusive mitherausgegeben und war als Autor für Splittermond tätig.
Daniel: Mein Name ist Daniel Neugebauer und ich mache gemeinsam mit Patrick Jedamzik (und natürlich vielen, vielen talentierten und kreativen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) den System Matters Verlag. Überraschenderweise habe ich festgestellt, dass der Verlag im September schon 5 Jahre alt wird! Begonnen hat natürlich alles mit unserem Podcast, der in diesem Jahr 11 Jahre wurde.
Nach Werken wie „Beyond the Wall“, „Dungeon Crawl Classic“ und der Kleinen Reihe, legt Ihr bald „Spire“ vor. Beschreibt doch bitte einmal in drei Sätzen worum es dabei geht?
Frank: Bei Spire handelt es sich um ein Fantasy-Punk-Rollenspiel in einem urbanen Setting. Die Spieler*innen schlüpfen dabei in die Rolle von Dunkelelfen, die ihre von den Hochelfen eroberte Stadt, den Spire, wieder zurückerobern wollen. Spire ist ein Spiel um Revolution und Widerstand aus dem Verborgenen heraus und um den Kampf einer unterdrückten Gemeinschaft gegen einer übermächtige Elite.
Was ist der Settingkern von „Spire“ – wo liegt der Unique selling points?
Frank: Wie bereits erwähnt werden in Spire Geschichten des Widerstands erzählt Dabei geht es aber nicht, wie z.B. in vielen Cyberpunksettings, um den Kampf gegen anonyme Konzerne. In Spire sind es die Bewohner*innen einer Stadt, die gegen eine Gruppe von Besatzer*innen aufbegehren, die ihnen ihre Heimat genommen haben. Anlehnungen an realweltliche Geschehnisse, insbesondere an die Kolonialgeschichte, sind sehr deutlich erkennbar. Gleichzeitig bricht Spire mit alten, inzwischen auch in Mainstream als problematisch wahrgenommenen Rollenspielklischees um die abgrundtief bösen, verschlagenen Dunkelelfen und die edlen, makellos schönen Hochelfen. So sind es hier die Hochelfen, denen als grausame Besatzungsmacht alle Mittel recht sind, um die Dunkelelfen als minderwertige Bevölkerungsgruppe darzustellen und auszubeuten.
Ist „Spire“ mehr Setting oder mehr Abenteuer?
Frank: Spire ist definitiv mehr eine große Setting-Sandbox. Das Grundbuch enthält eine ausführliche Beschreibung der Stadt und ihrer Bewohner*innen, der verschiedenen Gruppierungen und politischen Strömungen. Die Stadtviertel haben alle ihren ganz eigenen Charme – seien es die schillernden Paläste an der Spitze der turmartig aufgebauten Stadt, die verruchten Bars und illegalen Märkte in den Vierteln der Unterschicht oder die realitätsverzerrenden Tunnel eines ehemaligen U-Bahn-Netzwerkes (der V-Bahn), die den gesamten Spire durchziehen. Abenteuerideen sind überall in der Settingbeschreibung verteilt und Spire ist definitiv ein Spiel, das sich für längere Kampagnen eignet, in deren Verlauf sich das Bild der Stadt durch die Aktionen der Charaktere maßgeblich verändern wird.
Daniel: Ich glaube das ist es auch, was den Reiz an Spire ausmacht. Das Setting bietet zahllose Abenteuerideen und seltsame Details, die man als Spielgruppe oder als SL gerne erkunden möchte. Man merkt beim Lesen deutlich, dass die Entwicklung des Settings viel Aufmerksamkeit erhalten hat.
Welches sind die spannendsten Spielzüge von „Spire“?
Frank: Spire verfügt über eine sehr übersichtliche Anzahl von Regelmechanismen. Den Kern bildet ein einfaches Würfelpoolsystem, bei dem Spieler*innen mehr Würfel verwenden, je kompetenter der Charakter für diese Aufgabe ist. Das Ergebnis der Würfe wird über eine simple Erfolgstabelle bestimmt, die den bekannten PbtA-Spielen ähnelt. So sind auch Erfolge oder Misserfolge mit Komplikationen möglich. Da es in Spire um Heimlichkeit geht, ist es nicht nur wichtig, sich um das physische und psychische Wohlergehen des eigenen Charakters zu sorgen, sondern auch um dessen Ruf und Deckmantel – zwei der insgesamt fünf Widerstandswerte, auf die ein Charakter „Schaden“ nehmen kann. Und von den Lakaien der Hochelfen enttarnt zu werden ist vielleicht sogar noch gefährlicher, als verwundet, aber unentdeckt aus einem Kampf zu entkommen.
Welche Art Charaktere werden gespielt? Welche Entwicklung können die Charaktere erleben?
Frank: In Spire haben Spieler*innen die Auswahl aus 10 verschiedenen Klassen, die allesamt eng mit der Spielwelt verwoben sind. Dazu gehören beispielsweise die Aufwieglerin, die z.B. Menschenmengen zusammentrommeln und beeinflussen kann, der Star, der seinem Charisma und seinen magischen Fähigkeiten über künstlerische Darbietungen Ausdruck verleiht, die Hebamme, die für das Wohlergehen der Dunkelelfen und ihres Nachwuchses zuständig ist oder der Ritter, der in Spire eher ein Rauf- und Trunkenbold ist, aber über die Lizenz zum Führen beeindruckend großer Waffen verfügt. Hinzu kommen noch 11 weitere Zusatzklassen, mit denen man im späteren Spielverlauf z.B. durch die Mitgliedschaft in einer der vielen Gruppierungen in der Stadt, den Charakter weiter ausdifferenzieren kann.
Die Charakterentwicklung gestaltet sich über die Veränderungen, die die Charaktere in der Stadt durch ihre Taten bewirken. Je nachdem, wie bedeutsam diese Veränderungen sind – von der Befreiung eines inhaftierten Genossen, über die Zerschlagung eines Rings von korrupten Stadtwachen bis hin zur Rückeroberung eines Viertels – erlernt der Charakter neue Fähigkeiten aus einer Liste, die zur eigenen Klasse gehört.
Welche Knackpunkte bzw. Schwächen bringt „Spire“ aus Deiner/Eurer Sicht mit? Wie sollte man damit umgehen?
Frank: Die Themen, die in Spire allgegenwärtig sind – Kolonialismus, Rassismus, die Ausbeutung einer ohnehin schon armen Unterschicht durch die übermächtigen und privilegierten Oberschicht – sind schwer zu ignorieren. Deshalb enthält Spire auch Hinweise zu so genannten Safety-Tools, mit denen man sich diesen Themen nähern kann, ohne dass dies auf Kosten des Spielspaßes einzelner Spieler*innen am Tisch geht. Dennoch raten wir Spielrunden, gemeinsam schon vor dem Spiel zu besprechen, wie stark die entsprechenden Themen im Fokus der gemeinsam erzählten Geschichten stehen sollen. Andererseits bietet Spire auch eine sehr gute Gelegenheit, sich auf eine spielerische Art und in einem geschützten Rahmen mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Was war für Euch / Dich das tollste Erlebnis während der Entstehungsphase?
Frank: Ich hatte großen Spaß, das Spiel in verschiedenen Spielrunden auszuprobieren. Das Einstiegsszenario „Staub & Blut“, das wir ebenfalls veröffentlichen, bietet so viele verschiedene Ansatzpunkte und Herangehensweisen, dass kein Spiel dem anderen glich. Von sehr bewegenden Dialogen zwischen Charakteren über die Frage, ob der Zweck alle Mittel heiligt bis hin zur furiosen Flugblattaktion vom Dachgebälk eines Theatersaal hatten wir alles dabei.
Ich möchte an dieser Stelle auch sehr ausdrücklich nochmal Robert Maier erwähnen, der eine hervorragende Übersetzung abgeliefert hat – was bei der Vorlage mit zahlreiche Wortneuschöpfungen und jeder Menge Anlehnungen an irdische Sprachen alles andere als einfach war.
Daniel: Ja, Robert hat sich tatsächlich ins Zeug gelegt und versucht die Stimmung mit der Sprache einzufangen. Das ist wirklich ein komplexer Prozess gewesen, bei dem es viele Fußnoten zu begutachten gab!
An welche Spielgruppen richtet sich „Spire“ ganz besonders und wer sollte einen Bogen ums Spiel machen? Ja, ich weiß das hier die Antwort „an jede“ besonders unter den Nägheln brennt, aber man muss es ja auch mal realistisch sehen. Also?
Frank: Spire richtet sich definitiv an Spielgruppen, die eher erzählorientierte Spiele mögen. Da Spielsystem ist einfach und flexibel und bietet auch durch die Fähigkeiten der einzelnen Charakterklassen jede Menge Gelegenheiten für Spieler*innen, aktiv ins Setting einzugreifen, neue NSCs hinzuzufügen oder unvorhersehbares Chaos zu stiften. Das erfordert von der Spielleitung eine gewisse Bereitschaft, von vorgeplanten Handlungsverläufen abzuweichen und sich überraschen zu lassen. Das ist auf der einen Seite eine große Stärke, wird anderen Gruppen aber vielleicht weniger gut gefallen.
Die Welt von Spire lässt sich nicht in Gut und Böse einteilen. Es gibt keine von Grund auf bösen Spezies wie in anderen Rollenspielen. Selbst die Hochelfen handeln nicht aus purem Sadismus, sondern weil sie der Überzeugung sind, ihre Position als Herrschende Klasse im Spire verdient zu haben. Dieses moralische Grau durchzieht viele Aspekte des Settings. Spire richtet sich in dem Aspekt eher an Spielgruppen, die Spaß daran haben, diese Ambivalenzen auszuloten, anstatt den nächstbesten Dungeon von einer Horde Monstern zu säubern.
Was plant Ihr in nächster Zeit für „Spire“
Daniel: Wir haben drei Abenteuerbände in Planung und gucken dann wie Spire angenommen wird. Es gibt noch einige spannende Bücher und Ergänzungen und wir hätten auf alle Fälle Interesse, sie auch auf Deutsch herauszubringen.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Was kommt nach „Spire“? Was habt Ihr auf dem Zettel? Kommen auch Eigenentwicklungen bzw. Spiele von deutschsprachigen Entwicklern?
Daniel: Ja, wir haben ein Spiel in der Kleinen Reihe, dass demnächst herauskommt: Reise durch Daisho, eine Eigenentwicklung von Nils Sommer. Ein Spiel, das die Stimmung von Prinzessin Mononoke, Avatar: The Last Airbender oder auch Zelda: Breath of the Wild einfängt. Es ist auch insofern besonders, dass gewaltlose Konfliktlösungen im Vordergrund stehen.
Außerdem arbeiten wir ja an Mythos World (die pbta-Variante von Cthulhu), Blades in the Dark und auch für den Dämonenfürst erscheint bald die Wüstnis, eine Ergänzung mit einer Minikampagne.
Vielen Dank für das Interview. Die letzten Worte gehören Dir / Euch.
Daniel: Danke für das Interview! Wie immer gilt: spielt ein paar Rollenspiele und testet in diesen Zeiten auch mal das Online-Rollenspiel aus, es funktioniert und man kann viele neue Systeme ausprobieren, ganz bequem vom Schreibtisch aus.
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